Fragmentierung und Volatilität, Stand: 06/2016
Fragmentierung und Volatilität, Stand: 06/2016

Aktueller Stand

Wirft man einen Blick auf den aktuellen Stand der 28 Parteiensysteme der EU-Mitgliedsstaaten in Bezug auf ihre Fragmentierung und Volatilität, dann erkennt man deutliche Unterschiede:

Eine deutliche Ballung lässt sich zwischen einer effektiven Parteienanzahl von 3 und 6 und einer Volatilität zwischen 10 und 20 Prozent erkennen. Elf Parteiensysteme finden sich in diesem Gebiet – darunter auch europäische Schwergewichte wie Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

Weitere fünf Parteiensysteme weisen eine geringere Volatilität auf. Bemerkenswert hier Malta mit rekordverdächtig niedriger Fragmentierung und Volatilität sowie Belgien, das trotz einer effektiven Parteienanzahl von 9,7 bemerkenswert wenig volatil ist.

In deutlich volatileren Gefilden bis 30 Prozent sind weitere vier Staaten unterwegs. Auch Polen könnte man noch zu dieser Gruppe zählen und so fünf Parteiensysteme benennen, die zwar klar volatiler als der Großteil der EU-Staaten sind, aber dennoch nicht aus der Menge herausragen.

Anders ist das sicherlich bei den volatilen und vergleichsweise stark fragmentierten Litauen, Slowakei und Tschechien der Fall. Auch die nicht so stark fragmentierten Italien, Spanien, Rumänien und vor allem Slowenien fallen mit ihrer hohen Volatilität aus dem Feld heraus.

Fragmentierung

Um die Frage zu beantworten, ob ein Parteiensystem mit einer bestimmten Anzahl von Parteien auf wenige große Parteien konzentriert oder in viele kleine Parteien zersplittert ist, wird […] die Fragmentierung bestimmt. Sie nimmt die Größenverhältnisse der Parteien bei den Wählerstimmen bzw. den Parlamentsmandaten in den Blick und gibt den – durch bestimmte Messgrößen bestimmten – Grad an Zersplitterung eines Parteiensystems an.
(Niedermayer)

Zur Berechnung der Fragmentierung des Parteiensystems ziehe ich die effektive Anzahl der Parteien heran. Ich stütze mich auf die Daten von parties-and-elections.eu, ergänze und überprüfe sie zum Teil aber auch durch andere mir zugängliche Quellen.

Volatilität

Aussagen über einen Systemwandel können daher […] nur durch den Vergleich zweier Systemzustände gewonnen werden. Das Phänomen des Wandels selbst wird durch die Volatilität gemessen, die die Veränderungen der Größenrelationen zwischen den Parteien bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen anzeigt.
(Niedermayer)

Die Volatilität messe ich mit dem Pedersen-Index. Ich stütze mich auf die Daten von parties-and-elections.eu, ergänze und überprüfe sie zum Teil aber auch durch andere mir zugängliche Quellen.

Problematisch bei der Berechnung der Volatilität sind deutlich vorgezogene Neuwahlen. Verzichtet man auf ihre besondere Berücksichtigung, führen die Werte im Falle einer sinkenden Volatilität zu einem Trugschluss: Sie zeigen trotz eines sich schnell wandelnden Systems ein vermeintlich stabiles Parteiensystem an. Daher berechne ich bei deutlich verkürzten Wahlperioden auch die Volatilität der letzten Wahl oder evtl. sogar der vorletzten Wahl mit ein. Als Grenzwert dient hier die halbe Länge der durchschnittlichen Wahlperiode bei allen betrachteten Wahlen in der EU. Die durchschnittliche Wahlperiode liegt bei etwa 3 Jahren und 6 Monaten. Immerhin rund 10 Prozent aller Wahlperioden kommen nur auf die Hälfte dieser Zeit.

Veränderungen bei Volatilität und Fragmentierung
Veränderungen bei Volatilität und Fragmentierung

Dynamik*

Nicht nur die Betrachtung des aktuellen Standes ist interessant, auch der Blick auf die Veränderung in Bezug auf die Fragmentierung und Volatilität ist spannend. Denn hier zeigt sich, ob die Momentaufnahme beim Stand für ein Parteiensystem lange geübte Normalität ist oder eine drastische Veränderung der Gegebenheiten abbildet. Dazu werden die Parteiensysteme je nach steigender, gleichbleibender oder sinkender Fragmentierung bzw. Volatilität in sechs Gruppen eingeteilt. Als Vergleichszeiträume dienen die vergangenen 8 Jahre mit den 16 Jahren zuvor.

Krisensektoren sind dabei sicherlich die mit steigender Volatiltität und steigender bzw. sinkender Fragmentierung. Während letzterer aktuell leer ist, tummeln sich im Sektor oben rechts fünf Staaten: Spanien, Griechenland, Irland, Deutschland und Tschechien. Deutlich krisenhaft sind dabei die drei Staaten, die in der Banken-, Finanz- und Währungskrise besonders unter Druck standen. Aber auch in Deutschland und Tschechien gibt es Veränderungen im Parteiensystem, die Probleme bereiten könnten. In Tschechien sind dabei die Werte ohnehin schon sehr hoch angesetzt.
Ebenfalls als unruhig könnte man die beiden Sektoren bezeichnen, in denen einer der beiden Werte stagniert, während der andere ansteigt. Eine steigene Fragmentierung besitzt hier nur Österreich, während gleich neun Staat mit einer steigenden Volatilität bei gleichbleibender Fragmentierung zu kämpfen haben. Zu erwähnen ist Malta. Hier lohnt jedoch ein Blick auf die absoluten Werte – und da ist das maltesische Parteiensystem ein Musterbeispiel für Bewegungslosigkeit. Oder Belgien, dessen hohe Fragmentierung ist schon länger ins Parteiensystem eingezogen – was aber nicht zur Funktionsfähigkeit eines Nahezu-10-Parteien-Systems beiträgt.

Weniger beunruhigend ist es wohl, wenn zwar die Fragmentierung steigt, die Volatilität jedoch sinkt. Das trifft derzeit nur auf Litauen zu, das jedoch mit schon sehr hohen Werten aufwartet.

Ruhig ist die Lage in den vier Sektoren mit stagnierenden und/oder sinkenden Werten. In fünf Ländern sind beide Werte gleichbleibend. Hier sind vielleicht die Niederlande oder Bulgarien zu nennen, die in den absoluten Fragmentierungswerten sehr hoch angesiedelt sind und am ehesten auch eine Tendenz in Richtung weitere Fragmentierung besitzen. Auch Portugal befindet sich an der Grenze zu einem unruhigen Sektor.
In sechs Ländern geht einer der beiden Werte zurück. Bedrohlich wird es hier aber für demokratische Verhältnisse, wenn Zustände wie in Rumänien drohen: Der ohnehin niedrige Fragementierungswert von 2,5 überdeckt hier aber die tatsächliche Dominanz der Sozial-Liberalen Union mit einer deutlichen absoluten Mehrheit.
Zuletzt Polen: Dort gehen beide Werte zurück, das System kommt zur Ruhe und konzentriert sich. Auf Dauer könnte auch das für die demokratische Kultur problematisch werden.

*Dieser Absatz wurde am 13. September aktualisiert und v.a. korrigiert.

Entwicklung der Fragmentierung und Volatilität in der gesamten EU
Entwicklung der Fragmentierung und Volatilität in der gesamten EU

Gesamtentwicklung

Auch wenn sich die Werte gegenüber meiner ersten Betrachtung durch verfeinerte Berechnungsmethoden und geänderte Bevölkerungszahlen leicht verschoben haben, bleibt die Schlussfolgerung: Zwar ziehen die Werte nach 2008 nach oben: Die Parteienanzahl stieg von 4,0 auf aktuell 4,8, die Volatilität kletterte von 14,9 % auf 23,4 %. Dennoch: Eine krisenhafte Situation sieht anders aus. Beide Anstiege sind eher verhalten und die aktuellen Werte im Rahmen der letzten 20 Jahre nicht besonders außergewöhnlich. Erst wenn sich der Trend dramatisch verstärkt könnte er eine allgemeine Krise der Parteiensysteme abbilden.

Fragmentierung und Volatilität der Parteiensysteme in der EU: aktueller Stand und Dynamik
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