Fragmentierung und Volatilität in Spanien
Fragmentierung und Volatilität in Spanien

Seit meiner ersten Suche nach der Antwort auf die Frage „Stecken die Parteiensysteme der EU-Mitgliedsstaaten in einer Krise?“ vor etwa einem Jahr fanden mehrere Wahlen in Europa statt. Nicht nur im krisengeschüttelten Spanien wurde in der Zwischenzeit (mehrfach) gewählt (auch in Irland, Kroatien, Polen, Portugal, der Slowakei und Zypern), aber diese spanischen Wahlen machten ein Problemfeld in meiner ursprünglichen Berechnung der Volatilität ganz offensichtlich: Vergleicht man nur die Wahlen von 2015 und 2016 miteinander, würde das für Spanien eine beruhigend niedrige Volatilität von ~ 7,4 Prozent ergeben. Das wäre aber ein Trugschluss. Immerhin zeigt die Tatsache, dass nach etwa einem halben Jahr erneut ein Urnengang fällig war, dass die Veränderungen im spanischen Parteiensystem nicht langsamer, sondern schneller wurden.

Angepasste Berechnungsmethode zur Volatilität

Daher habe ich meine Berechnungen verändert und berücksichtige nun die Dauer der jeweiligen Wahlperiode in der Berechnung der Volatilität. Das ist nach meiner Meinung aber nicht für jede Wahl notwendig, sondern nur für solche Wahlen, die sich aus einer deutlich verkürzten Wahlperiode ergeben. Ich betrachte dabei alle berücksichtigen Wahlperioden in der EU. Aktuell waren diese im Durchschnitt ca. 3 Jahre und 6 Monate lang. Für alle Wahlen, die auf eine Wahlperiode folgen, die weniger als die Hälfte dieses Durchschnittswertes erreicht haben, berücksichtige ich auch die Volatilität der vorherigen Wahl – und im Zweifelsfall auch der dieser vorausgehenden Wahl mit ein. Sie wird – je nach Dauer der Wahlperiode anteilig in die Kalkulation aufgenommen. Dies geschieht allerdings nur dann, wenn sich ohne diese Berücksichtigung eine niedrigere Volatilität als bei der vorherigen Wahl ergeben würde.

Der Grenzwert und auch die Berechnungsmethode sind natürlich von mir willkürlich gesetzt. Da ich hier aber nicht auf gängige Methoden und Fristen zurückgreifen kann, muss ich mit dieser Problematik leben. Das Ergebnis ist nach meiner Meinung dem überlegen, das sich ohne diese Berücksichtigung ergibt.

Fragmentierung

Um die Frage zu beantworten, ob ein Parteiensystem mit einer bestimmten Anzahl von Parteien auf wenige große Parteien konzentriert oder in viele kleine Parteien zersplittert ist, wird […] die Fragmentierung bestimmt. Sie nimmt die Größenverhältnisse der Parteien bei den Wählerstimmen bzw. den Parlamentsmandaten in den Blick und gibt den – durch bestimmte Messgrößen bestimmten – Grad an Zersplitterung eines Parteiensystems an.
(Niedermayer)

Zur Berechnung der Fragmentierung des Parteiensystems ziehe ich die effektive Anzahl der Parteien heran. Ich stütze mich auf die Daten von parties-and-elections.eu, ergänze und überprüfe sie zum Teil aber auch durch andere mir zugängliche Quellen.

Volatilität

Aussagen über einen Systemwandel können daher […] nur durch den Vergleich zweier Systemzustände gewonnen werden. Das Phänomen des Wandels selbst wird durch die Volatilität gemessen, die die Veränderungen der Größenrelationen zwischen den Parteien bei zwei aufeinanderfolgenden Wahlen anzeigt.
(Niedermayer)

Die Volatilität messe ich mit dem Pedersen-Index. Ich stütze mich auf die Daten von parties-and-elections.eu, ergänze und überprüfe sie zum Teil aber auch durch andere mir zugängliche Quellen.

Problematisch bei der Berechnung der Volatilität sind deutlich vorgezogene Neuwahlen. Verzichtet man auf ihre besondere Berücksichtigung, führen die Werte im Falle einer sinkenden Volatilität zu einem Trugschluss: Sie zeigen trotz eines sich schnell wandelnden Systems ein vermeintlich stabiles Parteiensystem an. Daher berechne ich bei deutlich verkürzten Wahlperioden auch die Volatilität der letzten Wahl oder evtl. sogar der vorletzten Wahl mit ein. Als Grenzwert dient hier die halbe Länge der durchschnittlichen Wahlperiode bei allen betrachteten Wahlen in der EU. Die durchschnittliche Wahlperiode liegt bei etwa 3 Jahren und 6 Monaten. Immerhin rund 10 Prozent aller Wahlperioden kommen nur auf die Hälfte dieser Zeit.

Etwas weniger als 10 Prozent der betrachteten Wahlperioden zeichnen sich durch diese deutlich Verkürzung aus. D.h. die Neuberechnung wirkt sich auf zahlreiche Parteiensysteme aus und bewirkt auch Veränderungen für die EU-Gesamtwerte. Das betrifft oft auch die Länder, die historisch betrachtet besonders kurze Wahlperioden hatten: Griechenland, Portugal, Bulgarien und Dänemark.

Nachstehend finden sich die Diagramme zu allen 28 Mitgliedsstaaten mit der neuen Berechnungsmethode. Für die meisten Parteiensysteme sind die Ausführungen aus meinem Beitrag vom September 2015 weiterhin gültig – wenn sich auch einzelne Werte leicht verschoben haben. Für die Staaten, in denen zuletzt gewählt wurde, möchte ich jedoch ein paar kurze Anmerkungen machen:

  • Irland: Was im letzten Jahr sich nur durch Umfragen vermuten ließ, ist eingetroffen: Der Umbruch im irischen Parteiensystem ging weiter: Volatilität (28,4 %) und Fragementierung (5,6) sind weiter auf Rekordwerte gestiegen. Die Symptome einer Krise des irischen Parteiensystems sind immer klarer zu erkennen.
  • Kroatien: Auch hier sind die Werte bei der letzten Wahl etwas angestiegen. In der Gesamtschau aber nur moderat, und im historischen Rückblick auf normale kroatische Verhältnisse.
  • Polen: Den Aufwärtstrend macht auch Polen mit. Allerdings sind auch hier sowohl der Anstieg als auch die absoluten Werte (auch für polnischen Verhältnisse) nicht besorgniserregend.
  • Portugal: Die aufregenden Jahre sind vorbei. Die hohen Werte der Jahre 2009 und 2011 sind Geschichte. Das Parteiensystem ist auf dem Weg von einem unruhigen System zu einem sich wieder beruhigendem System.
  • Slowakei: Anders die Slowakei, wo das Parteiensystem seinen Konsolidierungskurs verlassen hat. Erhöhte Volatilität und stark angestiegene Fragmentierung – die deutlichen Verluste der sozialdemokratischen Smer und die Zugewinne zahlreicher kleiner Parteien, z.T. aus dem rechten und nationalistischen Lager, haben Bewegung in das System gebracht. Ob das nur ein Zwischenspiel nach der Konsolidierung ist, bleibt abzuwarten.
  • Spanien: Schon vor der 2015er-Wahl hatte ich Probleme bei der Regierungsbildung vorhergesagt. Sowohl die Wahlprognosen als auch diese Einschätzung sind letzlich eingetroffen. Explodierende Werte bei Fragmentierung und Volatilität, vorgezogene Wahlen schon nach einem halben Jahr wegen unmöglicher Regierungsbildung waren die Folge. Das spanischen Parteiensystem ist definitiv in der Krise angekommen.
  • Zypern: Die Wahl in Zypern brachte keinen Erdrutsch mit sich, aber Veränderungen für alle Parteien und im Ergebnis ein etwas stärker fragmentiertes System.

Und hier nun die Diagramme zu allen 28 Parteiensystemen in der EU:

Auf der Suche nach der Krise

Um krisenhaften Veränderungen auf die Schliche zu kommen, habe ich neben den Länderdiagrammen und dem Verlauf des EU-Gesamtwertes noch zwei weitere Aufstellungen neu eingeführt. Sie sind in einem separaten Beitrag zu finden. Die erste zeigt die Parteiensysteme in einem Koordinatensystem, das auf den aktuellen Fragmentierungs- und Volatilitätswerten basiert. Deutliche Ausbrecher lassen sich hier gut erkennen.

Eine Krise zeigt sich aber nicht oder nicht immer in den absoluten Werten, sondern auch in Umbrüchen und Veränderungen, mit denen die politischen Akteure, Verfahren und Institutionen nicht zurecht kommen. Daher vergleiche ich in einem zweiten Diagramm die absoluten Werte aktueller Wahlen mit denen aus vorherigen Wahlen. „Aktuell“ sind dabei für mich die letzten acht Jahre. Die vorherigen Wahlen werden aus zwei weiteren Acht-Jahres-Zeiträumen berechnet. So soll eine einzelne Wahl nicht zu starkes Gewicht erhalten. Im Schnitt finden pro Acht-Jahres-Zeitraum in jedem Land etwas mehr als zwei Wahlen statt.
Das Diagramm, das sich aus den Berechnungen ergibt, ist in sechs Sektoren unterteilt. Der „Krisensektor“ ist dabei derjenige mit gestiegenen Fragmentierungs- und Volatilitätswerten, aber auch in anderen Sektoren können krisenhafte Veränderungen zu sehen sein, etwa in den beiden angrenzenden Sektoren, bei zu geringer Fragmentierung oder bei steigernder Fragmentierung auch ohne steigende Volatilität.

Gemeinsam sind beide Diagramme gut geeignet, um die Suche nach der Krise systematisch zu beginnen. Dabei muss aber natürlich beachtet werden, dass schon leichte Veränderungen der Parameter (z.B. Sieben-Jahres-Zeiträume) abweichende Ergebnisse bringen können. Die vorgenommende Berechnung kann daher nicht die abschließende Bewertung völlig ersetzen.

Neue Wege: Volatilität nach deutlich verkürzten Wahlperioden
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